Erinnerungen an Klaus Müller

Meine Erinnerungen an Klaus Müller beginnen, wie die Hunderter seiner Schützlinge, mit der Delegierung ans Trainingszentrum Leichtathletik der BSG Fortschritt Pirna. Der Weg dorthin war typisch für das Talentsichtungssystem der DDR. Meine Sportlehrer in der Schule, Herr und Frau Müller in Heidenau, erkannten wohl eine gewisse Begabung und schickten mich erst zur BSG Motor Heidenau, wo ich meine ersten Schritte in der Leichtathletik bei Herrn Zschernig und Herrn Koch machte. Klaus Müller begegnete ich meist bei Wettkämpfen in Pirna.

Obwohl er einen Ruf als „harter Hund“ hatte, wechselte ich im Herbst 1977 im Alter von zehn Jahren nach Pirna. Klaus Müller ist mir von Anfang an als Respektsperson in Erinnerung. Das Training bei ihm war immer strukturiert und gab uns schon früh einen Rahmen. Zuspätkommen zum Training ging gar nicht, es gab Trainingstagebücher und wer seine schulischen Leistungen schleifen ließ, hatte mit ihm ein Problem. Was Herr Müller sagte, war Gesetz. Auf der anderen Seite herrschte in unserer Trainingsgruppe zwischen Jungs und Mädchen ein tolles Verhältnis. Klaus Müller verstand es, aus uns bei aller Rivalität eine verschworene Truppe zu machen. Spätestens bei der Siegerehrung gab man sich wieder die Hand. Bei den in der Leichtathletik zwar eher seltenen Mannschaftswettbewerben waren die Pirnaer, dank des Müller´schen Teamspirits, eigentlich immer vorn dabei.

Erinnere ich mich an Wettkämpfe an der Rottwerndorfer Straße in den Siebzigern und Achzigern, dann erinnere ich mich immer an ein großes Getümmel. Klaus Müller war ein „Menschenfänger“, der seines Gleichen sucht. Jeder wurde eingespannt und war fortan Teil der Leichtathletikfamilie. In den Zeiten vor der Digitalisierung saß meine Mutter mit anderen Müttern im Klubraum und schrieb in Sütterlinschrift Urkunden. Andere Eltern gaben Getränke aus, schmierten Brote, halfen als Kampfrichter oder feuerten uns an. Bei Auswärtswettkämpfen leisteten meist mehrere Elternteile mit ihren PKW´s den Fahrdienst. Die altersschwachen H6B-Busse des Strömungsmaschinenbaus waren oft so störanfällig, dass An- und Abreise einem Roulette glichen. Klaus Müller war der große Organisator und Motivator. Er spannte alle ein für die gute Sache. Wenn wir mit dem Bus zum Training kamen und ein Elternteil als Abholer mit dem Auto kam, ordnete er sofort Sammeltaxi nach Hause an. Manchmal durchlebte ich dabei Todesängste, vor allem wenn der Opa von Silvia Esser mit seinem Skoda kam. Der war weit in den Achtzigern, extrem schwerhörig, sah schlecht und wir atmeten im Fond hörbar auf, wenn wir glücklich in Heidenau ankamen.

Die Aufgabe des Trainingszentrums und seines Leiters Klaus Müller war die Sichtung und Entwicklung von talentierten Schülern für die Leichtathletik sowie die Delegierung der Besten im Alter von meist 12 Jahren nach Dresden zum SC Einheit Dresden. Diesen Weg gingen wohl Hunderte unter seinen Fittichen. Einige starteten später eine internationale Karriere, etliche fielen durch das gnadenlose Sieb des DDR-Sportsystems, aber auch nicht wenige kamen zurück nach Pirna und landeten wieder bei Klaus.

Klaus Müller, der sein Berufsleben als Elektriker begann und „an Baggern und sowas“ gearbeitet hat, brachte sich die Grundlagen der Trainingsmethodik weitestgehend autodidaktisch bei. Techniktraining konnte bei ihm genauso spannend sein wie teambildende Spielformen. Dabei ging es nie bierernst zu. Klaus Müller hatte immer einen Spruch auf den Lippen. Seinen legendären Spruch „Wer keine Lust hat, muss zum Halma ins Pionierhaus gehen!“ haben Generationen von Sportlern gehört. Wenn auf der Rottwerndorfer Straße ein Martinshorn erklang und wir alle den kleinen Wall zum Zaun hoch rannten, den es damals noch gab, erschallte von vorn ein lautes „Ihr elenden Katastrophen-Emils – genug geglotzt!“.

Ich erinnere mich an legendäre Trainingslager mit Klaus Müller in der Sportschule Greiz. Kreistraining, Berganläufe, Turnen – aber auch Saunabesuche oder abendliche Disco.

In der Stadt gab es damals gerade eine Innovation der DDR-Kosumgüterindustrie, ein Duschbad als Schaumsprayflasche. Alle rannten los und kauften es sich. In den nächsten Tagen und vor allem bei der abendlichen Disco rochen alle gleich, denn es wurde exzessiv geduscht. Den Duft habe ich heute noch in der Nase. Wenn die Sauna nur auf 85 Grad kam, wurde von Klaus kurzerhand ein einstündiges Fußballspiel angesetzt, um den Kreislauf vorzuglühen. Dann ging es kurz unter die Dusche und ab in die Sauna. Warum Tilo Marx ausgerechnet in der Sauna die Reclam-Ausgabe des Schimmelreiters lesen und lernen musste, ist mir entfallen. Auf jeden Fall war das Buch hinterher unbrauchbar.

Klaus beteiligte sich mit großem Gaudi gern auch an Freizeitaktivitäten wie Länder klauen, einem Spiel, bei dem ein Taschenmesser zur Grenzziehung eine nicht unwesentliche Rolle spielte. Zur Motivation wurde immer mal ein Siegerpreis ausgelobt, meist nur eine Flasche Limo außer der Reihe.

Nach einer Silvesterfeier im Stadion, die beim gemeinschaftlichen Heimweg am frühen Neujahrsmorgen quer durch die Viehleite Richtung Sonnenstein zwischenzeitlich in einer Schlägerei ausartete, weil einige von uns die Mädchen gegen aufdringliche Entgegenkommende verteidigten, packte mich Klaus Müller beim ersten Training im neuen Jahr am Kopf. Er drehte ihn hin und her und meinte: „Na Olaf? Kein blaues Auge? Kein Kratzer? Hast Dich wohl zurückgehalten?“. Als ich mich umblickte, verstand ich sofort. Zu meiner Verteidigung konnte ich vorbringen, dass ich die Nachhut bildete und erst spät am Ort des Geschehens eintraf.

Selbst in den Ferien sorgte sich Klaus Müller um seine Schützlinge. Man durfte sich nicht wundern, wenn man von ihm eine einfache graue Postkarte bekam, auf der er penibel einen Trainingsplan notiert und mit der Grußformel „schöne Ferien!“ versehen hatte.

Mein Athletiktraining in einem Sommer bestand darin, den Betonmischer zu füttern und mit der Schubkarre Kies, Sand und Zement zu transportieren. War mein mauernder Vater mit „Masse“ versorgt, machte ich Wurfübungen mit einem Hohlblockstein.

Diese Jahre der Kindheit und Jugend waren durch den Sport immer klar strukturiert. Tino Krell, der mit seiner Familie im spanischen Granada lebt, schrieb mir dieser Tage, dass ihn diese Jahre geprägt haben und er schon früh gelernt hat, sich und seine Zeit zu organisieren, um Schule und Sport unter einen Hut zu bringen. Nicht nur für ihn war es eine der schönsten und intensivsten Zeiten seines Lebens. Oder wie es Reinhard Mey in einem seiner Lieder beschreibt „… wie auf´ner Galeere, aber glücklich und frei dabei…“.

Schule, danach nach Hause, schnell die Hausaufgaben erledigt und ab zum Training – das war jahrelang unser Alltag. Im Winter in diversen Turnhallen und ab dem Frühjahr auf dem Sportplatz. An den meisten Wochenenden dann noch Wettkämpfe. Der erste Fixpunkt im Jahr war immer das Schülersportfest am 1. Mai. Klaus Müller legte immer großen Wert darauf, dass wir an allen Wettkämpfen teilnahmen. Mehrfachstarts in verschiedenen Disziplinen bis hin zum Mehrkampf waren völlig normal.

Ich kann mich an einen Stabhochsprung-Wettkampf in Pirna erinnern, an dem von ausgewiesenen Experten wie Tilo Marx und Falk Michaelis auch alle anderen Trainingsgruppenmitglieder teilnahmen. Heiko Herrmann, eigentlich eher der Werfertyp, tönte vor dem Wettkampf noch, dass er fehlende Technik durch Mut auszugleichen gedenke. Mir stehen heute noch die Tränen in den Augen, als er anlief, absprang und den Stab auch dann nicht los ließ, als dieser kerzengerade im Einstichkasten stehen blieb. Da hing er nun in drei Meter Höhe wie an einer Kletterstange, der Heldenhafte und schrie „Herr Müller, was soll ich jetzt machen??“ Klaus antwortete einfach „Na festhalten!“, hielt den Stab unten fest und der Gedemütigte rutschte unter lautem Gelächter nach unten.

Der nächste Jahreshöhepunkt war die traditionsreiche Stafette der Freundschaft, der Staffellauf, der im Jahreswechsel in Pirna oder Decin begann und in der jeweils anderen Stadt endete. Als fauler Sprinter hatte ich immer das Privileg, entweder Start oder Ziel zu laufen. Damit es in den Städten, wo erfahrungsgemäß die meisten Zuschauer am Straßenrand standen, schnell und dynamisch aussah, waren die Strecken für die Start- bzw. Zielläufer meist nur 600 m lang. Die getauschten Kronen wurden meist in Kremser Senf, Hörnchen oder Pikao umgesetzt und der Rest zusammengelegt für die Abschlussveranstaltung, bei der es nach Grußworten und Freundschaftsbekundungen immer hoch her ging.

Im Sommer folgte dann die Spartakiade-Zeit. Von der Kreis- über die Bezirks- bis hin zur DDR-Spartakiade waren das für uns damals die Höhepunkte des Jahres. Man fühlte sich wie ein Olympionike. Nach den Sommerferien gab es immer eine Art Auftaktveranstaltung, bei der ein Sportler und eine Sportlerin ausersehen wurden, den Eid der Sportler zu sprechen. In einem Jahr war ich auch dran und nach der Anmoderation „Den Eid der Sportler spricht …“ ging ich vor und ratterte meinen Text herunter, der mit den Worten „Den Eid der Sportler sprach Olaf Böhme.“ endete. Gelächter!

Der Herbst und Winter stand im Zeichen der Crossläufe. Von den Einen geliebt, von Sprintern wie mir gehasst. Klaus Müller nutzte selbst diese Wettkämpfe zur Teambildung. Als Sprinter hatte ich die Aufgabe, als eine Art Hase unsere besten Mittelstreckler am Start an die Spitze des Feldes zu führen. Meist wurde auf einer Lichtung oder Freifläche gestartet, auf der Massen von Läufern in breiter Front an der Startlinie standen. Nach wenigen hundert Metern verengte sich die Strecke auf Waldwegbreite und dort musste man vorn sein. Meist klappte unser Teamsprint bis dorthin vorzüglich, nur dass ich mich dann über den Rest der Strecke nur noch dahinschleppte und das Kampfziel lautete, nicht Letzter zu werden. Ich wurde oft gnadenlos durchgereicht. Den meisten Spaß machte noch der Willi-Sänger-Gedenklauf im Plänterwald zu Berlin, weil es danach meist noch auf den Weihnachtsmarkt, in den Palast der Republik oder auf den Fernsehturm ging.

Immer dabei natürlich Klaus Müller, den ich eigentlich nur im Trainingsanzug mit Stoppuhr um den Hals kenne. Seine Stimme konnte man selbst in Momenten großer Lautstärke, aufgrund lauter Anfeuerungsrufe, immer heraushören. Irgendwann war man einfach geeicht auf seine Stimme.

Nicht immer war alles eitel Sonnenschein. Gab es mal Streit und man erschien ein paar Tage nicht zum Training, stand Klaus Müller prompt vor der elterlichen Wohnungstür und verabschiedete sich nach einem klärenden Gespräch mit den Worten „bis Montag zum Training!“.

Wie viele seiner Schützlinge habe auch ich schon mit 16 Jahren als Übungsleiter die Jüngsten betreut. Natürlich immer nach Trainingsplänen, die Klaus Müller für uns schrieb.

Nach dem Abitur trennten sich dann unsere Wege. Nach Wehrdienst und Studium kam ich 1994 zurück nach Pirna. Irgendwann im Jahre 2002 dachte ich mir, dass es neben Arbeit und Wochenenden noch mehr geben muss. Und so führte mich der Weg eines Tages ins Stadion, wo ich die schönste Zeit meiner Kindheit und Jugend verbracht hatte. Klaus Müller saß im Container in seinem Büro und blickte mich erstaunt an, als ich nach 17 Jahren plötzlich wieder in der Tür stand.

Ich schlug ihm vor, die vorher nicht existente Webseite für den Verein zu erstellen. Mir war einfach danach, ein Stück zurück zu geben für die prägende Zeit mit ihm. Und es dauerte dann nicht lange und der „Menschenfänger“ Klaus spannte mich sofort in die Vereinsarbeit ein. Ein Jahr später war ich schon als Mitglied Nummer 299 im Vorstand seines Vereins gelandet und für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Doch damit nicht genug. Ehe ich mich richtig versah, war ich plötzlich zertifizierter Zeitnehmer des LVS und damit Teil der Kampfrichterriege.

Manchmal durfte ich ihn auch im Laufteam vertreten, sei es nun auf dem Fahrrad als Begleitung beim Dauerlauf im Ostertrainingslager Zinnowitz oder als Betreuer bei den Deutschen Jugendhallenmeisterschaften in Sindelfingen.

Die Jahre des Laufteams der LG Asics waren nicht nur seine erfolgreichsten Jahre als Trainer. Es war ihm anzumerken, welchen Spaß es ihm machte. Endlich konnte er seine jungen Talente auf ihrem Weg bis in die deutsche Spitze begleiten. Der Erfolg mit vielen deutschen Meistertiteln, Teilnahmen an Europa- und Weltmeisterschaften bis hin zu den Olympischen Spielen in Athen machte ihn stolz. Pirna war in der Leichtathletikszene plötzlich ein Begriff und auch gelegentlichen Neidern trotzte er, die seine Trainingsumfänge verteufelten. Dabei verfolgte er stets seinen Plan, u.a. gemeinsam mit dem IAT in Leipzig. Detailliert konnte Klaus im Gespräch darlegen, wann man welche Umfänge trainieren muss, um Jahre später in der Weltspitze anzukommen. GA 1 und GA 2 waren für den Außenstehenden geheimnisvolle Abkürzungen – für ihn waren sie Grundlage des Erfolges. Das manche Ziele am Ende nicht erreichbar waren, mag ihn betrübt haben. Von seinen Prinzipien abzurücken war ihm ein Gräuel und wenn seine Schützlinge in seinen Augen falsche Prioritäten setzten, schoss er wohl auch mal über das Ziel hinaus. Trotzdem freute er sich, wenn seine Sportler später auch ihre privaten Ziele erreichten, Medizin studierten oder beruflich ihren Weg machten.

Als ich vor 10 Jahren eine Krise durchmachte, bot er mir an mit ins Trainingslager nach Portugal zu fliegen, um mal eine Luftveränderung zu haben. Dafür bin ich ihm heute noch dankbar. Als wir eines Abends bei einem gemütlichen Drink in kleiner Runde im Hotel saßen und das Programm einer portugiesischen Volkstanzgruppe verfolgten, kam die Jüngste ausgerechnet an unseren Tisch, um jemanden für die Gästerunde aufzufordern. Es traf mich und so produzierte ich mich eine Viertelstunde schwitzend auf der Bühne. Am nächsten Morgen kam ich wie immer als Letzter zum Frühstück, als Klaus mich mit den Worten „Olaf, Du sollst Dich mal an der Rezeption melden!“ begrüßte. Auf meine Nachfrage, was man von mir will, meinte er ganz trocken „Du sollst Dir Dein Honorar für gestern abholen!“. Gelächter!

Nun bin ich seit 14 Jahren im LSV Pirna Mitglied und damit bald doppelt so lange wie meine aktive Zeit bei Fortschritt Pirna dauerte. Freundschaften entstanden und als besonderes Privileg empfinde ich, dass mir Klaus alsbald das Du anbot und wir in Augenhöhe über Gott und die Welt, meist aber über alle möglichen Aspekte der Leichtathletik sprachen.

Ich wusste, dass die vielen Jahrzehnte an der frischen Luft bei ihm Spuren hinterlassen hatten und er schon lange an seiner Krebserkrankung litt. Aber wenn man erlebte, wie er damit umging und seine Kraft in den Dienst des Vereins stellte, konnte man nur Respekt haben.

Ob es um seinen kaputten Computer, um Veranstaltungsflyer oder um Aktionen für den Schutz seines Stadions gegen die aberwitzigen Südumfahrungspläne ging – wenn Klaus Einen durch seine Brillengläser listig anschaute und grinsend sagte: „Mach mal!“, konnte man ihm eigentlich nie etwas abschlagen.

Nun hat sein Herz aufgehört zu schlagen und was bleibt, sind die Erinnerungen an einen Menschen, der wie kein Zweiter das Leben ganzer Generationen von Leichtathleten in Pirna geprägt hat. „Ganz oder gar nicht“ war sein Motto.

Er wird mir fehlen.

Wer keine Lust hat muss zum Halma gehen!